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Die Mission der Evolutionspsychologie
Risiken und Nebenwirkungen einer evolutionspsychologischen Metatheorie
Simon Roos
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Fakultät für Psychologie
Betreuer*in
Thomas Slunecko
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.10937
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-30339.77595.692054-9
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Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Im ersten Kapitel wird das evolutionspsychologische Programm anhand seiner historischen Wurzeln in Evolutionsbiologie und kognitiver Psychologie beleuchtet und anhand seiner wichtigsten Argumentationsstränge präsentiert: der Bereichsspezifität, der Behandlung ultimater Ursachen als ‚Adaptationen´ im Rahmen eines ‚historisch selektiven Kontextes´ sowie der Konzeption einer aus teleonomisch programmierten ‚evolvierten psychologischen Mechanismen´ zusammengesetzten, modularen Architektur des Geistes, die anhand ihres ‚anatomisch funktionalen Designs´ analysierbar wird. Es wird die methodische Herangehensweise eines bottom-up- und eines top-down-Ansatzes im Rahmen der evolutionspsychologischen Analysehierarchie beleuchtet. Weiters wird das evolutionspsychologische Selbstverständnis als kohärente, ‚panspezifisch nativistische´ Disziplin sowie das evolutionspsychologische Verständnis von Kultur erörtert. Abschließend werden die metatheoretischen Ambitionen der Evolutionspsychologie vorgestellt, die das Ende eines ‚fragmentarischen´ Zustandes der Psychologie und deren Reorganisation anhand der ‚natürlichen Gelenke´ einer evolutionspsychologischer Metatheorie versprechen. Im zweiten Kapitel wird der spekulative Charakter historischer Ansprüche der ‚Erklärung´ ultimater Ursachen aufgezeigt. Anhand der evolutionsbiologischen Zugänge des ‚reverse engineering´, ‚adaptive thinking´ und der ‚komparativen Analyse´ (in dieser Reihenfolge steigt die historische Akzentuierung der Zugänge) werden die jeweiligen Anforderungen zur Annahme einer Adaptation erläutert. Beim ‚reverse engineering´ kann die Evolutionspsychologie weder historisch vertretbare Begrenzungen der Macht der natürlichen Selektion vorweisen noch unabhängige empirische Hinweise darauf erbringen, dass der betrachtete Mechanismus tatsächlich eine phylogenetische ‚Neuerscheinung´ darstellt. Im Fall des ‚adaptive thinking´ können evolutionspsychologische Hypothesen evolutionsbiologische Standards zur Rechtfertigung der ‚Annahme einer Adaptation´ nicht im Geringsten erfüllen. Der letzte Zugang wird gar vollständig ausgeblendet. Beide in der Evolutionspsychologie angewendeten Zugänge werden demnach bezüglich historischer Ansprüche als spekulativ bezeichnet. Der spekulative Charakter wird näher untersucht und als interpretative Spekulation bzw. denkstilgemäßer Denkzwang im Rahmen einer Spekulationsgemeinschaft (d.h. einem sich speziell durch geteilte spekulative Annahmen auszeichnenden Denkkollektiv sensu Fleck) charakterisiert, wobei hermeneutische Mehrwerte generiert werden. Rhetorische Ausschlussmanöver werden als ‚Kämpfe gegen Strohmänner´ mithilfe paralogischer ‚falscher Dichotomien´ charakterisiert, wobei die Kaschierung eines hermeneutischen Defizites durch die durch Spekulation generierten hermeneutischen Mehrwerte offenbar wird. Aktive Koppelungen der Evolutionspsychologen werden am Beispiel der unzulässigen Vermengung des evolutionären Mechanismus der natürlichen Selektion mit der Evolution ‚an sich´ dargestellt. Die sophistisch verfahrende, aggressive Propagierung der passiven Koppelungen bzw. des hermeneutischen Mehrwerts durch die evolutionspsychologische Spekulationsgemeinschaft wird als ‚Mission der Evolutionspsychologie´ charakterisiert. Überdies werden Metatheorien als ‚Nebenprodukte´ wissenschaftlicher Theoriebildung identifiziert und die De-Ontologisierung der althergebrachten Erkenntnistheorie dargestellt, um die dogmatisch vertretene ‚Metatheorie´ der Evolutionspsychologie zu relativieren und ein Verständnis von ‚Metatheorie´ als ‚konnotative Theorie´ einzuführen. In Kapitel drei wird die Krise der Psychologie als auf philosophischen Grundspannungen fußender Dauerstreit um die (Un-)Einheitlichkeit der psychologischen Disziplin beleuchtet und das von Goertzen zur Lösung derselben (in Analogie zu Simulationen nichtlinearer dynamischer Systeme) vorgeschlagene unity-disunity-Kontinuum erläutert. Die ‚Mission der Evolutionspsychologie´ kann nun als krisenverlängernde Maßnahme charakterisiert werden, deren rhetorische Ausschlüsse lediglich eine Verlagerung ignorierter philosophischer Grundspannungen von alten auf neue ‚irreführende Dichotomien´ zur Folge hat. Das unity-disunity-Kontinuum wird anhand von fünf Merkmalen zu einer Metapher des ‚Tauziehens´ heterogener Forschergruppen in einer ‚wissenschaftlichen Arena´ der Psychologie ausgebaut: 1.) Das Tauziehen hat aufgrund seiner autopoietischen Realitätsanteile einen dialektischen Charakter inne. 2.) Aktive Koppelungen werden als ‚Zielbereiche´ des erwünschten Grades an (Un-)Einheitlichkeit der psychologischen Arena von Akteuren (z.T. unbewusst) selbst gesetzt und aktiv angesteuert, während sie gleichsam von diesem Zielbereich angezogen werden (passive Koppelungen). 3.) Anhand von den Akteur umgebenden eigenen oder fremden ‚Fußabdrücken´ kann eine Schätzung der ‚realen´ (Un)Einheitlichkeit vorgenommen und daraufhin eine zeitverzögerte reflexive Selbststeuerung vorgenommen werden. Intradisziplinäre Grenzarbeit kann eine solche Schätzung verfeinern und unbewusste aktive Koppelungen identifizieren. 4.) Zweck des Tauziehens ist nicht der Sieg, sondern die Aufrechterhaltung des Tauziehens. Siegesambitionen oder Kappungen des Taues führen beim nachhaltigen Ignorieren von Kritik im Rahmen intradisziplinärer Grenzarbeit zum Erliegen des Tauziehens. 5.) Eine Verortung und Abgrenzung der durch das Tauziehen konstituierten wissenschaftlichen Arena zu anderen Disziplinen und zu nicht-wissenschaftlichen Arenen wird aufgrund gegenstandslogischer Defizite vorerst verschoben. Im vierten Kapitel werden anhand der idealisierten logischen Typen der nomologischen und autopoietischen Realität Differenzen zwischen Gegenständen sichtbar, welche empirisch stets in einer unterschiedlichen Mischung konfiguriert sind. Passend zu den logischen Typen werden die Theoriewerkzeuge der denotativen und der konnotativen Theorien vorgestellt, welche einer gegenstandsadäquaten Erfassung der unterschiedlich konfigurierten Mischrealitäten durch unterschiedlich konfigurierte Theorien (und damit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen) dienen. In diesem Zuge kann die Herausbildung einer ‚essentiellen´ Realitätsebene im Rahmen der Evolutionspsychologie ausgemacht werden, die als quasi-denotativer Isolationsversuch kausaldeterministischer Zusammenhänge beginnt und sich unter Hypnose dieser Zusammenhänge (die nun zu ‚falschen natürlichen Gegenständen´ avancieren!) gleichsam verselbständigt und nun auch synchrone Begriffsbestimmungen der Evolutionspsychologie anleitet. Nun wird die Verortung und Abgrenzung der ‚wissenschaftlichen Arena´ des Tauziehens nachgetragen: Das Tauziehen befindet sich in einer hybriden empirischen Mischrealität mit autopoietischen wie nomologischen Anteilen und bildet und erhält sich in der Mischform reflexiver Autopoiesis in Form einer dynamischen Konstitution. Die Akteure des Tauziehens stehen vermittels konnotativer Theorie in Gegenstandskontakt (und grenzen sich dadurch von anderen Wissenschaften und nicht-Wissenschaft ab). Der Überschneidung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt wird durch autoreflexive Theorieprotokolle individueller und sozialer Institutionalisierung Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang wird überdies der Vorschlag einer epistemologischen Ethik nachgetragen, der die Herausbildung hermeneutischer Defizite an der Wurzel bekämpft. Im fünften Kapitel werden Risiken und Nebenwirkungen evolutionspsychologischer Metatheorie aufgezeigt: Als primäres Risiko entpuppt sich die ‚essentielle´ Realitätsebene, welche durch ihre hypnotische Wirkung zu Verboten einzelner Konnotationsleistungen evolutionspsychologischer Begriffe führt: Einzelfallbetrachtungen, individuelle Intentionalität, und kollektive Emergenz können demnach nicht thematisiert werden; Neues bringt hier nur die Adaptation. Auch die Legitimation wirtschaftlicher Ausbeutung kann nicht thematisiert werden. Sekundäre Risiken ergeben sich aus dem durch Evolutionspsychologen antizipierten, die Balance der Disziplin gefährdenden ‚Sieg´ im Tauziehen; sowie aus der nicht thematisierbaren sozialen Institutionalisierung aufgrund des evolutionspsychologischen Kulturverständnisses. Überdies wird eine Lähmung autoreflexiver Theoriebildung durch einen infiniten Regreß festgestellt, der die individuelle Institutionalisierung gleichsam standardisiert: Dies kann nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ideologisch ausgebeutet werden. Abschließend wird die ‚Not´ der instabilen dynamischen Konstitution der psychologischen Wissenschaft zur ‚Tugend´ umdefiniert, die prinzipielle Gleichheit menschlicher Akteure suggeriert und paradigmatischer Machtkonzentration entgegenwirkt. Evolutionspsychologie stellt eine mögliche (wenn auch angesichts ihres hermeneutischen Defizites nicht besonders überzeugende) Form konnotativer Begriffskonfigurationen dar, muss jedoch ihre metatheoretischen Ambitionen fallen lassen und vielmehr ihren Geltungsbereich revidieren, um nicht als autoreflexiv ‚blinde´ Metawissenschaft zur Legitimation unethischer Handlungs- und Gesellschaftspraxis zu dienen, während sie an ihrem Gegenstand vorbei erklärt. Als Nebenwirkung ihrer metatheoretischen Ambitionen kann die Entwicklung zeitgemäßer Paradigmen genannt werden, die im Kontrast zur einheitlich argumentierenden Evolutionspsychologie orientiert sind. Solche Paradigmen könnten in weiterer Zukunft ebenfalls zu einheitswissenschaftlichen Ambitionen gelangen und so erneute Ausgleichsbewegungen im ‚Tauziehen der wissenschaftlichen Arena´ stimulieren.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Deutsch)
Evolutionspsychologie Metatheorie Krise der Psychologie konnotative Theorie autopoietische Realität Erkenntnistheorie Wissenschaftstheorie Spekulation Rhetorik Ethik
Autor*innen
Simon Roos
Haupttitel (Deutsch)
Die Mission der Evolutionspsychologie
Hauptuntertitel (Deutsch)
Risiken und Nebenwirkungen einer evolutionspsychologischen Metatheorie
Publikationsjahr
2010
Umfangsangabe
236 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Thomas Slunecko
Klassifikationen
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.01 Geschichte der Wissenschaft und Kultur ,
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.02 Wissenschaftstheorie ,
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.10 Wissenschaft und Gesellschaft ,
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.13 Wissenschaftspraxis ,
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.14 Organisation von Wissenschaft und Kultur ,
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.15 Wissenschaftspolitik, Kulturpolitik ,
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.16 Wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit ,
08 Philosophie > 08.32 Erkenntnistheorie ,
08 Philosophie > 08.38 Ethik ,
10 Geisteswissenschaften allgemein > 10.02 Philosophie und Theorie der Geisteswissenschaften ,
11 Theologie > 11.97 Neue religiöse Bewegungen, Sekten ,
42 Biologie > 42.02 Philosophie und Theorie der Biologie ,
42 Biologie > 42.05 Naturgeschichte ,
42 Biologie > 42.10 Theoretische Biologie ,
42 Biologie > 42.21 Evolution ,
77 Psychologie > 77.02 Philosophie und Theorie der Psychologie
AC Nummer
AC08349013
Utheses ID
9858
Studienkennzahl
UA | 298 | | |
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