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Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung
unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien
Roland Pichler
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Rechtswissenschaftliche Fakultät
Studiumsbezeichnung bzw. Universitätlehrgang (ULG)
Dr.-Studium der Rechtswissenschaften Rechtswissenschaften
Betreuer*in
Ilse Reiter-Zatloukal
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.41841
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-30210.55933.713453-2
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Jahrzehntelang hielt sich in der wissenschaftlichen Diskussion und der öffentlichen Wahrnehmung die These, dass Frauen während der Zeit des Nationalsozialismus lediglich Opfer bzw. passive Mitläuferinnen gewesen seien. Die Annahme stützte sich auf die dem Nationalsozialismus immanenten Geschlechterdifferenz, wonach Frauen keine führenden Rollen im NS Staat innehaben konnten und darauf, dass das patriarchal geprägte Frauenbild auch nach 1945 weiterbestand. Erst gegen Ende der 1970er Jahre fand eine zunehmend kritischere Auseinandersetzung mit dieser Frage statt, und es wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Frauen in der rassistischen Vernichtungspolitik des NS-Regimes trotz dessen patriarchaler Ausrichtung wichtige Funktionen einnahmen und das NS-Regime aktiv unterstützten. Einen wichtigen Indikator für die Beteiligung von Frauen an nationalsozialistischen Verbrechen sind die nach Kriegsende geführten Gerichtsverfahren. In Österreich waren für die Verfolgung von NS Verbrechen die eigens hierfür errichteten Volksgerichte zuständig. Diese justizielle Entnazifizierung war eng verzahnt mit verwaltungsrechtlichen Entnazifizierungsmaßnahmen, welche im Wesentlichen in der Registrierung der Nationalsozialist_innen und der Auferlegung von Sühnefolgen an diese bestanden. Mit dem Abschluss des Staatsvertrages und dem Abzug der Alliierten wurden die Volksgerichte abgeschafft und gerieten wie die verwaltungsrechtlichen Entnazifizierungsmaßnahmen rasch in Vergessenheit, sollte doch unter die „Nazi-Frage“ endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Erst ab Mitte der 1990er Jahre fand auf Initiative der „Zentralen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz“ (FStN) eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Volksgerichtsbarkeit sowie der Entnazifizierung statt. Im Mittelpunkt standen dabei eher historische als juristische Fragestellungen. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, erstmals die Entwicklung der justiziellen und verwal-tungsrechtlichen Entnazifizierungsgesetzgebung auf juristischer Ebene umfassend zu analysieren. Einen zweiten Schwerpunkt legt die Arbeit auf jene Verfahren, die vor dem Volksgericht Wien gegen Frauen geführt wurden. Es wird gezeigt, auf welche Weise und in welchem Umfang Frauen den Nationalsozialismus unterstützten und an NS Verbrechen beteiligt waren und zu welchen geschlechterspezifischen Rollenzuschreibungen es in den Gerichtsverfahren kam. Anhand von Gesetzestexten, Literatur, Rechtsprechung und Verfahrensakten werden die materiellen und prozessualen strafrechtlichen Normen und deren Anwendung in der Praxis sowie die verwaltungsrechtlichen Entnazifizierungsbestimmungen untersucht. Dabei werden rechtliche und politische Einflussfaktoren in die Analyse miteinbezogen. Zu nennen sind hier vor allem die Auswirkungen der Rechtsüberleitung nach Kriegsende sowie der alliierten Besatzung. Zur Beantwortung der Frage nach Handlungsspielräumen und Motiven der beschuldigten Frauen sowie zur Untersuchung der Verfahren anhand der Kategorie „Geschlecht“ dient die Untersuchung von 23 ausgewählten Verfahren des Volksgerichts Wien. Es wird nicht nur eine Gruppe von Personen (etwa KZ Aufseherinnen) oder eine Deliktsgruppe (z. B. Gewaltverbrechen) untersucht, sondern auch Verfahren wegen „Arisierungen“ oder „Illegalität“. Die vorliegende Arbeit hebt sich dabei von anderen ab, welche sich auf einen der genannten Teilbereiche konzentrieren und setzt sich erstmals mit der juristischen Ahndung der Tätigkeit von Frauen während der „Verbotszeit“ der NSDAP auseinander. Volksgerichtsbarkeit, Entnazifizierung und die damit zusammenhängende Sondergesetzgebung waren wesentlich durch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse – allen voran die alliierte Besatzung – determiniert. Ein wesentliches Problem betraf dabei die unterschiedliche Rechtsüberleitung und -anwendung in der sowjetischen bzw. den westalliierten Besatzungszonen. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich vor allem in der Anfangszeit durch die personelle Unterbesetzung der Gerichte sowie deren mangelhafte Ausstattung. Die untersuchten Volksgerichtsverfahren zeigen kein einheitliches Bild der „NS-Täterin“. Biographischen Eckdaten der untersuchten Personen ergeben unterschiedliche Typen von Beschuldigten sowohl innerhalb der einzelnen Deliktsarten als auch deliktsübergreifend hinsichtlich Berufsstand, Ausbildungsgrad und sozialen Status. Die in NS Verbrechen involvierten Personen bewegten sich in einem solchen Handlungsspielraum, der es ihnen auch erlaubt hätte, nicht als NS Delinquenten in Erscheinung zu treten. Die Verbrechen wurden nicht, wie vielfach behauptet, aufgrund einer Zwangslage begangen, sondern basierten auf einer unterschiedlich stark ausgeprägten freiwilligen Kooperation mit dem NS-Regime.
Abstract
(Englisch)
The hypothesis that women were merely victims or passive followers during the time of National Socialism has been held in scientific discussions and public perception for decades. This assumption was based on gender differences inherent to Nazism, whereby women were not allowed to hold leading positions in the Nazi State, and that the patriarchal-embossed image of women continued to exist even after 1945. An increasingly critical examination of this question only took place towards the end of the 1970s, and an awareness was created that women in the racist policy of extermination of the Nazi regime occupied important functions despite its patriarchal orientation, and that they actively supported the Nazi regime. Important indicators of female participation in Nazi crimes are court proceedings conducted after the World War II. The specially built people's courts (“Volksgerichte”) were responsible for the prosecution of Nazi crimes in Austria. This judicial denazification was closely linked to administrative denazification measures, which were mainly in the registry of National Socialists and imposition of atonement consequences. With the conclusion of the Austrian State Treaty and the departure of the allies, the people's courts were abolished and quickly forgotten as well as the administrative denazification measures – a concluding line should finally be drawn under the “Nazi-issue”. It was not until the mid-1990s that a scientific reappraisal of the people's courts and the denazification measures took place at the initiative of “Austrian Research Agency for Post-War Justice” (FStN). The focus was more on historical issues than legal issues. This study firstly aims to comprehensively analyse the development of the judicial and administrative denazification legislation on the legal level. A second focal point is set on the proceedings that were performed before the people's court of Vienna against women. It will be shown in which way and to what extent women supported Nazism and were involved in Nazi crimes, and which gender role ascriptions occurred in court proceedings. On the basis of legal texts, literature, jurisprudence and case files, the substantive and procedural criminal law norms and their application in practice, as well as the administrative denazification provisions will be examined. Legal and political factors are included in this analysis. Important to mention here is the impact of legal transformation after the war and the influence of the allied forces. To answer the question of the scope and motives of the accused women, and to investigate the trials based on the category of gender, 23 cases from the people's court of Vienna have been selected. Not only a group of people (KZ guards) or a group of offenses (e.g. violent crimes) will be examined, but also methods of “Aryanization” or “illegality”. This work clearly differs from others, which concentrate on only one of the mentioned areas, and deals with the legal prosecution of women's activities during the “prohibition time” of the NSDAP. The jurisdiction of the people’s courts, denazification and related special legislation were substantially determined by the social and political conditions - especially the allied occupation. A major problem arose concerning different law transformation and application in the Soviet or Western-allied occupation zones. Another difficulty surfaced, especially in the early days, due to the understaffed courts and their lack of equipment. The examined court cases show no consistent picture of “Nazi female perpetrators”. Biographical key data of the surveyed people shows different types of accused persons, both within individual types of crimes and over-reaching offences in terms of profession, education level and social status. The persons involved in Nazi crimes were manoeuvring in a scope, which would have also allowed them not to appear as Nazi criminals. The crimes were not, as often claimed, committed due to a predicament, but were based on voluntary cooperation, to different degrees, with the Nazi regime.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Englisch)
People’s courts War crimes female NS offenders National socialism
Schlagwörter
(Deutsch)
Verbotsgesetz Kriegsverbrechergesetz Entnazifizierung Volksgericht Nationalsozialismus NS-Täterinnen Kriegsverbrechen "Arisierung" "Euthanasie"
Autor*innen
Roland Pichler
Haupttitel (Deutsch)
Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung
Hauptuntertitel (Deutsch)
unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien
Publikationsjahr
2016
Umfangsangabe
511 Seiten : Illustrationen
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Ilse Reiter-Zatloukal ,
Frank Höpfel
Klassifikationen
86 Recht > 86.09 Rechtsgeschichte ,
86 Recht > 86.33 Strafrecht: Allgemeines
AC Nummer
AC13110086
Utheses ID
37041
Studienkennzahl
UA | 083 | 101 | |
Universität Wien, Universitätsbibliothek, 1010 Wien, Universitätsring 1