Das "Central-Marginal" Konzept der Evolutionsbiologie sagt aus, dass Populationen die sich am Arealrand eines Verbreitungsgebietes befinden, weniger genetische und phänotypische Variation aufweisen und weniger seltene Allele beinhalten als zentrale Populationen. Die Ursachen dafür sind, dass zentrale Populationen älter sind, in geeigneteren Habitaten und höheren Populationsdichten vorkommen und der genetische Austausch zwischen Teilpopulationen dadurch höher ist. Die Verteilung genetischer Vielfalt wird jedoch auch von klimatisch bedingten Verbreitungsdynamiken beeinflusst. In vergangenen Studien hat sich gezeigt, dass Saponaria pumila, eine alpine Polsterpflanze, die letzte Kaltperiode am Ende des Holozän in unvergletscherten Refugialräumen in den östlichen Ausläufern der Alpen überdauern konnte. Nach dem Rückzug des Eisschildes erfolgte eine Wiederbesiedelung der silikatischen Zentralalpen. Laut "Rear-Edge - Leading-Edge" Hypothese befindet sich der Großteil der genetischen Variation in randlichen Refugialräumen und Populationen der wiederbesiedelnden Vorderfront weisen starke genetische Verarmung auf.
In dieser Arbeit sollen genetische Gruppierungen und die Verteilung genetischer Vielfalt innerhalb des Hauptareals von S. pumila untersucht werden. Es soll festgestellt werden, ob vom "Central-Marginal" oder vom "Rear-Edge - Leading-Edge" Modell ausgegangen werden kann. Ich möchte auch untersuchen ob es Zusammenhänge zwischen räumlichen, genetischen, ökologischen und diversen Fitness-bezogenen Parametern gibt.
Fünfzehn Seifenkraut-Populationen in den österreichischen Zentralalpen wurden untersucht, Bodenproben genommen, Vegetationsaufnahmen gemacht und DNA-Proben gesammelt. Mithilfe der AFLP-Methode und computergestützten Analysen konnte ein genetisches Profil erstellt werden. Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Populationen, ihre genetische Diversität und Anteile seltener Marker wurden berechnet. Beim Auffinden einer hohen genetischen Diversität und vieler seltener Allele in östlichen Refugialpopulationen und genetischer Verarmung westlicher Populationen würde die „Rear-Edge – Leading-Edge“ Hypothese bestätigt werden. Um Zusammenhänge zu finden wurden Korrelationen zwischen genetischer Vielfalt und weiteren erhobenen Parametern berechnet, grafisch dargestellt und diskutiert.
Drei verschiedene genetische Gruppen konnten differenziert werden: Eine zentralöstliche Gruppe, die von einer zentralwestlichen Gruppe durch das Murtal getrennt ist und eine dritte Gruppe am Westrand des Areals. Die Anzahl seltener Allele ist in östlichen refugialen Randpopulationen am höchsten, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass es sich hierbei um das "Rear-Edge" handelt. Gegen Westen nimmt die Zahl der seltenen Allele drastisch ab. Das "Leading-Edge" ist in den westlichsten Randpopulationen situiert. In gewisser Weise trifft jedoch auch das Central-Marginal-Modell zu, denn zentrale Populationen weisen gesamt eine höhere genetische Diversität auf, nur ist das Zentrum der genetischen Vielfalt historisch bedingt Richtung Osten, also in Richtung Refugien verschoben.
Es gibt Zusammenhänge zwischen genetischer Variation und vielen Fitness-bezogenen Merkmalen: Blätter und Pflanzenpolster sind in genetisch diversen Populationen größer und Individuen kommen in wettbewerbsfähigeren Pflanzengesellschaften vor. Es wird vermutet, dass eine weitere Ausbreitung durch eine Reduktion der Fitness in westlichen, genetisch verarmten Populationen limitiert wird bzw. dass der Zeitraum seit der letzten Eiszeit für eine Wiederbesiedelung aller potenziellen Habitate noch nicht ausgereicht hat.