Die Dissertation befasst sich mit dem bisher in der Forschung vernachlässigten Begriff der geistigen Produktivität aus tiefenpsychologischer Perspektive. Gemeint ist die Produktivität, die sich u.a. in Erzeugnissen der Schrift (Wissenschaft, Literatur, Briefe, Lebensberichte), der musikalischen Komposition, der bildenden Kunst, des Films und der Technik, ferner in der Gründung von Gruppen, wie Institutionen, Schulen und Unternehmen zeigt. Geistige Produktivität wird nicht in erster Linie als geniale Einzelleistung verstanden, sondern als Akkumulation vieler kleiner und groÃer Leistungen, als Zusammenarbeit vieler und als Erzeugnis eines langjährigen gemeinsamen Denkens von Gruppen. Zwei kurze Definitionen:
1. Geistig produktiv sein heiÃt, Lernen und Lehren.
2. Geistig produktiv sein bedeutet, dem flüchtigen Gedanken Dauer verleihen.
Den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden die Werke tiefenpsychologischer Forscher, weil von ihnen umfangreiches biografisches Material vorliegt und weil sie in ihren Schriften die geistige Produktivität thematisieren.
Einem Rückblick auf die Entwicklung des Begriffes Produktivität innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte folgt die Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Kreativität, Geist, Bildung, Arbeit und Leistung. Es besteht kein Zweifel, dass die Kreativität und andere geistige Prozesse der Produktivität vorausgehen, jedoch konzentriert sich diese Arbeit auf die Produktivität.
Im Mittelpunkt stehen Leben und Werk von vier besonders produktiven Wissenschaftlern, Sigmund Freud, Alfred Adler, Otto Rank und Josef Rattner. In einem ersten Schritt wird in autobiografischem und biografischem Material dieser Autoren nach Charakteraspekten gesucht, die für geistige Produktivität relevant sind. Für Sigmund Freud stehen Wissbegierde, Mut, Sublimierung, Selbsterkenntnis und Mitteilungsdrang im Blickfeld, für Alfred Adler kompensatorisches Streben, A Gemeinschaftsgefühl und Selbstachtung. Bei Otto Rank sind Wille, Gefühl und Persönlichkeitsbildung als relevante Faktoren zu erwähnen, während für Josef Rattner Hingabe- und Begeisterungsfähigkeit, Skepsis, Offenheit für Gruppengespräche und Sensibilität für Bildungsgeschehen und Persönlichkeitsformung hervorzuheben sind.
In einem zweiten Schritt wird geprüft, welche theoretischen Aussagen und Konstrukte der Autoren mit den aufgezeigten Charaktereigenschaften verwandt sind, sodass ein Gesamtbild entsteht, das die Lebensgeschichte mit der Theorie des jeweiligen Forschers verbindet.
Die vier Autoren stimmen in der Auffassung überein, dass Intelligenz und Geistigkeit nicht rein rational sind, sondern tief im Emotionalen und Leiblichen verankert sind. Demnach entfaltet sich geistige Produktivität, wenn alle Persönlichkeitsbereiche ausgebildet werden- also nicht nur Verstand und Vernunft, sondern neben der Geistigkeit auch Leiblichkeit, Gefühle, Zwischenmenschlichkeit und Wertempfinden.
Faktoren, die geistige Produktivität hemmen, sind neben materieller Not und Bildungsmangel die ausufernde Unterhaltungsindustrie und der zunehmende Konformitätsdruck.
AbschlieÃend folgt der Hinweis, dass geistige Produktivität nicht auf einen oder wenige Faktoren zurückzuführen ist, sondern als ein Strukturmodell, bestehend aus zahlreichen Elementen, verstanden werden muss. Dabei ist das Strukturmodell Diltheys hilfreich, da es verschiedene Einstellungen, Tugenden, Emotionen und Charakterzüge in ihrem Zusammenhang und als Bedingung für geistige Produktivität transparent werden lässt. Es war allerdings nicht die Aufgabe dieser Dissertation, alle möglichen Elemente erschöpfend dazustellen, sondern einen Weg aufzuzeigen, wie man sich dem Phänomen geistiger Produktivität annähern kann.