Der Beitrag diskutiert Arnold Gehlens Figur des Mängelwesens und vollzieht dessen anthropologische Annahmen anhand zentraler Rezeptionslinien nach: An Gehlens Modell entzünden sich zahlreiche Debatten, die von einer Replik des nationalsozialistischen Pädagogen Ernst Krieck über verhaltens- und evolutionsbiologische Korrekturen bis hin zur Kritik und entschiedenen Ablehnung des Werkes reichen. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die Rezeption durch Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas als zentrale Protagonisten der Kritischen Theorie gelegt. Schließlich soll vor diesem Hintergrund Gehlens Werk in den Kanon der Neuen Rechten, denen er mittlerweile als Vordenker gilt, eingeordnet werden.
Bis heute überdauert in anthropologischen Diskursen die Rede vom Menschen als Mängelwesen und sie fehlt in kaum einer Einführung in die philosophische, historische oder pädagogische Anthropologie (vgl. Wulf 2008; Witteriede 2009, S. 95; Zirfas 2004; Wulf/Zirfas 2014, S. 35). Auch wenn die Idee vom Menschen als Mängelwesen bis in die Antike zurückreicht und spätestens bei Herder ihre theoretische Fundierung gefunden hat, wird sie wesentlich mit dem Namen Arnold Gehlens verbunden, der den Begriff in seinem anthropologischen Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt systematisch ausführte. Gehlens Buch zählt zu den Klassikern der anthropologischen Forschung. Nachdem Der Mensch 1940 inmitten der Herrschaft der Nationalsozialisten veröffentlicht wurde, war diesem, nach einer erheblichen Überarbeitung der 4. Auflage 1950, auch über die unmittelbare Kriegs- und Nachkriegszeit hinaus eine große Wirkung beschieden. Gleichwohl entzünden sich an Gehlens anthropologischem Modell zahlreiche Debatten, die von einer Replik des nationalsozialistischen Pädagogen Ernst Krieck, über verhaltens- und evolutionsbiologische Korrekturen, bis hin zur Kritik und entschiedenen Ablehnung des Werkes reichen.
Die Rezensionen und Kritiken von Gehlens erstem Hauptwerk und den daran anschließenden Folgewerken Urmensch und Spätkultur von 1956 (auch als Der Mensch II bezeichnet) sowie der Kampfschrift Moral und Hypermoral von 1969 (Der Mensch III) lassen sich bis in die 1970er Jahre entlang zweier Linien scheiden: Bezogen auf seine anthropologischen Schriften wird ihm insbesondere aus der Pädagogik der Vorwurf des Biologismus gemacht, hinsichtlich seiner späteren soziologischen Werke wird ihm sein Konservatismus politisch angelastet (vgl. Hagemann-White 1973, S. 27; Rehberg 1993, S. 914; Leonard 2009). Am prominentesten dürfte dabei Gehlens fortwährender Disput mit Adorno und Habermas als prominente Vertreter der Kritischen Theorie nachgewirkt haben (vgl. Adorno/Gehlen 1965; Habermas 1981).
Nachdem im ersten Abschnitt zunächst die anthropologische Argumentationslinie Gehlens nachvollzogen wird, soll im zweiten Teil insbesondere die Kritik der Kritischen Theorie thematisch werden. Schließlich wird vor diesem Hintergrund im Schlussteil Gehlens Anthropologie in die Rezeptionsgeschichte der Neuen Rechten eingeordnet, denen er bis heute als Vordenker gilt (vgl. Weißmann 2000b, S. 21).