In meinem Dissertationsprojekt interessiere ich mich für den Umgang der Migrationsanderen mit Rassismus: Wie gehen Menschen, die in Österreich aufgrund natio-ethno-kultureller Zuordnungen eine Markierung als „Andere“ sowie damit einhergehende Deklassierung und Unterordnung erfahren, mit der rassistischen Deklassierung um? Wie verhalten sie sich zu den bestehenden Ungleichheitsverhältnissen? Was bewirken diese Umgangsstrategien, wie sind sie mit anderen Differenzordnungen verknüpft und wo sind sie im Hinblick auf die Aufrechterhaltung einer rassistischen Ordnung zu positionieren?
Aus einer bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Perspektive richtet diese Fragestellung den Blick auf die lernenden Subjekte und rückt das wechselseitige Aufeinander-Bezogen-Sein von Welt und Individuum, in dem sich sowohl die Bildung des Subjekts als auch die Reproduktion des Sozialen vollzieht, in den Mittelpunkt. Aus einer Migrationspädagogischen Perspektive, die sich von den Identitätspolitiken der Dominanzgesellschaft distanziert, erscheint nicht nur das Verstehen dieser Reproduktionsprozesse interessant, sondern ist es auch geboten über pädagogische Möglichkeiten ihrer Unterbindung nachzudenken. Die Erkenntnisse aus meiner Untersuchung münden deshalb in die Diskussion schulisch-pädagogischer Praxisanleitungen.
Durch die Nähe an die Migrationspädagogik reiht sich mein theoretischer Zugang in die Traditionen der Cultural Studies, des Sozialkonstruktivismus, des Symbolischen Interaktionismus und der Standpunkt-Theorie. Dementsprechend vertrete ich eine sehr dynamische Auffassung von Subjekt, Identität, Kultur und Rassismus. Die in der Arbeit verwendete Rassismusdefinition steht in klarer Abgrenzung zu individualistischen, sozialpsychologischen und mikrosoziologischen Modellen, welche Rassismus als Leistung einzelner Individuen oder Randgruppen auffassen (vgl. etwa die Stereotypenforschung, Kontakthypothese, Angst-Aggressions-Theorien, Frustrations-Aggressions-Theorien, Psychoanalytische Erklärungsmodelle, Konzepte zur Erklärung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen, Konzept der autoritären Reaktion, Theorie des realistischen Gruppenkonfliktes). In macht- und herrschaftssoziologischen Ansätzen (vgl. etwa die Postkoloniale Theorien, Kritische Weißseinsforschung, das Konzept der Dominanzkultur nach Rommelspacher, Rassismustheorien in der marxistischen Tradition, Bourdieus Konzept der Symbolischen Macht, Cultural Studies) wird Rassismus dagegen nicht als gesellschaftliche Randerscheinung gedacht, sondern als eines von mehreren die Gesellschaft strukturierenden Prinzipien. Als ein Deutungs- und Handlungsangebot, das mittels kollektiv geteilter Bildern (Repräsentationen) und Wissen (Ideologien) funktioniert, wirkt Rassismus auf und durch alle Subjekte in einer Gesellschaft und regelt in formeller und informeller Weise ihr Miteinander. Alle Subjektpositionen sind durch die gesellschaftlichen Strukturen geprägt und wirken auf diese zurück.
Ein Blick auf die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass sich diese jedoch nur selten den Betroffenen als handelnde Individuen zuwendet. Fragen nach dem Umgang der Migrationsanderen mit Rassismuserfahrungen oder rassistischer Deklassierung kommen in der gängigen Rassismus- und Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum nur am Rande vor. Die verhältnismäßig wenigen empirischen Studien, die sich für die habitualisierte Wahrnehmungsposition der Migrationsanderen interessieren, decken eine Fülle von Umgangsstrategien und Bewältigungsformen auf, welche Betroffenen dazu verhelfen, mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen zurechtzukommen, diesen zu begegnen, Widerständigkeit zu entwickeln oder ihr psychisches und praktisches Überleben zu organisieren und verweisen auf verschiedene Verstrickungen und Ambivalenzen. Mit geringen Ausnahmen sind diese Studien jedoch durch wenig Systematik geprägt und beschäftigen sich meist nur mit vereinzelten Reaktionen oder Strategien. Mein Vorhaben zielt daher auf eine möglichst breite Erfassung verschiedener Umgangsformen sowie ihrer Systematisierung. Auch ich erhebe nicht den Anspruch, ein abgeschlossenes Erklärungsmodell zu erstellen, möchte aber versuchen die verschiedenen Strategien im Umgang mit Rassismus und gesellschaftlicher Segmentierung in einen theoretischen Rahmen zu setzen und dadurch ein Stück weit zur Erklärung von Rassismus und den Funktionsmechanismen hinter den gesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen beitragen.
Das empirische Material für meine Untersuchung wurde mittels Gruppendiskussionen erhoben und mithilfe der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Dabei wird eine Fülle von Emotionen, Kognitionen und Handlungsweisen sichtbar, mit denen Migrationsandere Rassismus begegnen und der eigenen Deklassierung entgegen zu wirken versuchen. Zum Zweck einer Systematisierung differenziere ich zwischen passiven und aktiven Duldungsstrategien, individuellen und kollektiven Aufstiegsstrategien sowie defensiven und offensiven Gegenstrategien. Hinter diesen Strategien verbergen sich drei zentrale Tendenzen im Umgang der Subjekte mit gesellschaftlichen Strukturen: Zementierung, Verschiebung oder Veränderung. Darin zeigt sich, dass Rassismus und Dominanz nicht nur von oben nach unten operieren, sondern sich auch Energie aus dem Tun und Unterlassen der deklassierten Subjekte beziehen.
Das, was sich im Spezifischen als Umgang der Migrationsanderen mit Rassismus zeigt, lässt sich im Allgemeinen als Umgang mit gesellschaftlicher Segmentierung verstehen, von der alle Subjekte betroffen sind. In diesem Sinne können die Ergebnisse dieser Studie dazu beitragen, nicht nur den Beitrag der Migrationsanderen für die Reproduktion des Rassismus im Spezifischen, sondern die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Allgemeinen besser zu verstehen. In den offensiven Gegenstrategien zeigt es sich, dass Emanzipation und Solidarität immer nur vorläufig gelingen können, da die Befreiung von den „Fesseln“ der ideologischen Diskurse nur durch die Erzeugung von neuen Denkprämissen erfolgen kann. Darin sind bereits der Aufbau von neuen Bündnissen und somit auch die Grundlage für neue Ausschlüsse impliziert.
Wenn Bildung nicht als Zustand, sondern als Prozess verstanden wird, erscheint dieser Kreislauf weniger problematisch. Was aus einer erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Perspektive dagegen als eine Herausforderung in Erscheinung tritt, ist das begrenzte Gelingen der verstrickten Subjekte, die alten Ideologien zu durchschauen, zu durchbrechen und sie durch neue zu ersetzen und das selbst dann (oder vielleicht vor allem dann), wenn die herrschenden Differenzordnungen ihnen eine Minderwertigkeit „einreden“ und sie Gehorsamkeit statt Hörsamkeit (Achtsamkeit) und Vernunft entwickeln. Dadurch wird die Notwendigkeit einer pädagogischen Einmischung sichtbar. Überlegungen nach Möglichkeiten zur Ermächtigung der verstrickten Subjekte stoßen jedoch unausweichlich auf die ambivalente Überlappung zwischen Befähigung und Bevormundung, die umso problematischer erscheint, wenn wir bedenken, dass Lehrende und Lernende situierte Subjekte sind.
Die unabgeschlossene Frage ist in meinen Augen die, nach möglichen pädagogischen Reflexions- und Kommunikationskulturen die in der Lage wären, die ambivalenten Verhältnisse und Verstrickungen, die Befangenheit, Vorläufigkeit und Brüchigkeit nicht zu negieren, sondern in Form einer fortdauernden (Selbst-)Thematisierung produktiv zu nutzen.